Wie kam es zu meinem Buch „Die Spitzenfamilie“ und wo habe ich die Geschichte meiner Familie recherchiert? Vor allem im kleinen Ort Bärringen – der heute Pernink heißt – und im böhmischen Erzgebirge liegt. Aus diesem Ort stammt mein Großvater Franz Bartl und diesen Ort und die Landschaft, in der meine Vorfahren über Generationen hinweg gelebt, geliebt, gelitten und gearbeitet hatten, wollte ich mit eigenen Augen sehen. Ich wollte mir selbst ein Bild davon machen, wie die alte Heimat meiner Familie heute aussieht und was sich dort heute noch an Spuren meiner Familie findet: Wie und von was leben die Menschen heute? Und erinnert sich vielleicht noch jemand an die Familie Bartl und ihre Stickereifabrik „Fraba“?
Zu Besuch beim fremden Nachbarn
Ziemlich genau vor einem Jahr fuhr ich mit Elke für ein paar Tage nach Karlovy Vary (früher Karlsbad) und Pernink (früher Bärringen). Weil ich mich schon so viel und so lange mit meiner Herkunftsfamilie beschäftigt hatte, ohne den Ort und die Region zu besuchen, hatte mir Elke kurzerhand zum Geburtstag einen mehrtägigen Hotelaufenthalt in dieser Gegend geschenkt. Was mir dort bewusst wurde: Über Tschechien wusste ich bislang viel zu wenig. Zwar hatte ich mich im Zuge meiner Recherchen schon mit der wechselvollen Geschichte unseres Nachbarlandes befasst, und ja, auch das wundervolle Prag hatten wir schon besucht. Zudem war ich immer ein großer Bewunderer von Vaclav Havel, als Schriftsteller und als Politiker. Aber mir ging es so wie vielen anderen, die sich kaum ernsthaft mit mittel- und osteuropäischen Ländern beschäftigt hatten. Der Ukrainekrieg hat wohl nicht nur mir bewusst gemacht, wie wenig wir von Geschichte und Gegenwart dieser europäischen Region wussten und noch heute wissen.
Von der Spitzenfabrik in Bärringen zum Altenheim in Pernink
Was wir von dieser ersten Reise mitnahmen, war: Karlovy Vary, einst ein Kurort von europäischem Rang mit eindrucksvollem Stadtbild und Kurpromenade, zehrt vor allem noch von seiner großen Vergangenheit. Und das nahegelegene Pernink, früher eine lebendige kleine Industriestadt im Erzgebirge, ist heute ein beschaulicher Ort, eingebettet in eine schöne, waldreiche Mittelgebirgslandschaft. Aus der Stickereifabrik „Fraba“ meines Großvaters Franz Bartl ist längst ein Altersheim geworden und aus der ehemaligen Villa der Bartl-Familie ein von außen ziemlich unansehliches Gebäude.
Auf den Spuren der deutsch-tschechischen Geschichte
Nur ein paar Wochen später begab ich mich mit meinem Freund Matthias, der aus einer deutsch-tschechischen Familie kommt und deshalb die Sprache fließend spricht, auf eine Reise zu den Spuren der deutsch-tschechischen Geschichte. Unsere erste Station war Usti nad Labem (Aussig an der Elbe), wo wir in einer aktuellen Ausstellung zum Thema „Unsere Deutschen“ mehr über 800 Jahre Miteinander von Tschechen und Deutschböhmen erfuhren. Danach besuchten wir in Terezin (Theresienstadt) die Gedenkstätte des Konzentrationslagers. Ein Ort, der schmerzhaft bewusst macht, von welcher Seite das gute Miteinander von Tschechen und Deutschen zunichte gemacht und aus Nachbarn für lange Zeit Fremde wurden.
Offene Türen in Pernink, dem ehemaligen Bärringen
Schließlich fuhr ich mit Matthias nach Pernink. Da mein Freund nicht nur die Sprache perfekt beherrscht, sondern auch sehr kontaktfreudig ist, kamen wir rasch ins Gespräch mit Einheimischen und so manche Tür öffnete sich für uns: Ein Bewohner der früheren „Bartl-Villa“ zeigte uns freundlich das alte Haus, in dem jetzt drei Parteien wohnen. Und durch einen Tipp im Rathaus lernten wir Jana kennen, die uns die schöne Barockkirche aufschloss und ein Treffen mit ihrem geschichtsinteressierten Mann vorschlug. Abends trafen wir die beiden in einer Gastwirtschaft – und sie brachten ihren Freund Bedrich und eine Überraschung mit.
Das geschenkte Album
Die Überraschung war ein Fotoalbum mit großformatigen Bildern aus der Stickereifabrik meines Großvaters – mit Fotos, die noch niemand aus meiner Familie kannte! Die 90-jährige Nachbarin von Bedrich hatte nach dem Krieg in dem Betrieb gearbeitet, der seit 1945 unter tschechischer Verwaltung stand, und dort das Album gefunden. In der Hoffnung, dass es einmal „in die richtigen Hände kommen wird“, hatte sie es aufbewahrt.
Nun saß ich da mit dem kostbaren Fotoalbum, das sie mir geschenkt hatte, sah die eindrucksvollen Fotos und war sehr dankbar, dass ich derjenige mit den „richtigen Händen“ war.
Das Buch über meine Familie
Voll mit Eindrücken von der Reise – und mit dem neuen Material – fing ich nur wenige Tage später an zu schreiben. Herausgekommen ist mein erstes Buch in der „Ich-Form“: Das Buch „Die Spitzenfamilie“ über meinen Großvater Franz Bartl und seine Stickereifabrik, über meine Großmutter Franziska und ihre große Kinderschar, über meine Mutter und ihre hoffnungsvolle Karriere als Pianistin, die sie aufgeben musste, als der Krieg begann.
Mein Weg bis zu diesem Buch war auch eine Reise, eine Erkundung vergangener Lebenswelten. Schreibend habe ich Menschen kennengelernt, die ich vorher nicht oder kaum kannte. Meinen Großvater vor allem, den ich nur aus Erzählungen und Bildern kannte, und die große Familie. Aber auch meine Mutter, von deren interessanter Lebensgeschichte ich viel zu wenig wusste. Weil ich, als ich jung war und sie noch lebte, kaum danach gefragt habe. Sehr schade! Sonst hätte ich mich nicht erst bei unserer Chile-Reise intensiv mit meiner Mutter und Claudio Arrau beschäftigt und in unserem Reiseblog darüber berichtet.
Unterschiedliche Sichtweisen und Erzählungen
Ein dramatischer Tiefpunkt unsere Familiengeschichte ist die Vertreibung der Familie Bartl aus ihrer Heimat und deren bittere Folgen. Diese Geschichte als Teil einer großen Erzählung über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten wurde ja sehr unterschiedlich erzählt – auch bei uns zuhause – und hatte lange Zeit auch das deutsch-tschechische Verhältnis sehr belastet. Die Sichtweisen beider Seiten ebenso einzubeziehen wie die historischen Fakten war mir deshalb wichtig. Als Teil der Familie und damit deren Geschichte wollte ich aber auch bewusst den persönlichen Blick auf meine Familiengeschichte werfen. Je länger ich schrieb, desto mehr wurde ich selbst Teil dieser Geschichte, wurde damit vom Chronisten zum Erzähler. Damit war es auch eine Reise zu mir selbst, zu meiner Geschichte.
Der Stoff
Was mich am Stoff, der Story interessierte? Als „geschichtsversessener“ Mensch hat es mich schon immer interessiert, was passiert, wenn die „große Geschichte“ in das Leben der Menschen eingreift, ihre Lebenswelt ebenso verändert wie ihre Zukunftsaussichten. Anpassungsfähig, wie Menschen sind, können diese Veränderungen eher moderat sein. Oder auch radikal, wenn existenzielle Brüche die Folge sind. Beides geschah in dieser Familiengeschichte.
Die Hauptfigur im Buch ist mein Großvater Franz. Aus kleinsten Verhältnissen stammend, stieg er zum erfolgreichen Stickerei-Fabrikanten und Bürgermeister auf. Seine Frau Fanny brachte die unfassbare Zahl von 16 Kindern zur Welt – für ihn mehr oder weniger künftige Arbeitskräfte. Seine Großfamilie führte er denn auch wie sein Unternehmen: autoritär, unerbittlich streng, patriarchalisch. Was prägte ihn, was trieb ihn an? Welche Spuren hinterließ er mit seiner herrischen Art bei seinen Kindern, also meinen Onkeln, Tanten und nicht zuletzt bei meiner Mutter?
Zudem brach immer mehr die „große Geschichte“ in das Leben der Familie ein: die Katastrophen zweier Weltkriege, die menschenverachtende Nazidiktatur und damit auch die dramatischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Wie erging es der Familie damit? Zeigten sie Haltung im NS-Unrechtsstaat? Und wie kam meine Mutter dazu, Pianistin zu werden und was bedeutete es für sie, Künstlerin in einer Unternehmerfamilie zu sein?
Das alles erfahrt Ihr in meinem Buch, das zudem aufwändig und schön gestaltet ist. Danke dafür an den Grafiker und Künstler Achim Weinberg, mit dem ich schon beruflich viel zusammengearbeitet hatte und seither befreundet bin.
Was ist Erinnerung?
Zum Schluss noch die Frage: Was ist eigentlich Erinnerung? Wir kennen das ja: Familiengeschichten sind voller Anekdoten, persönlicher Erinnerungen, Erinnerungsstücken wie Fotoalben, Dokumenten oder – leider eher selten – Tagebüchern, mitunter auch Geheimnissen.
Auch das interessierte mich: Wie gehen wir um damit? Und wie glaubwürdig sind Erinnerungen? Ich meine: Erinnerungen können trügerisch sein, denn sie verändern sich mit der Zeit. Je nach Alter und Lebenssituation werden sie „passend gemacht“ und gleichsam „überschrieben“. Manches, woran man felsenfest glaubte sich zu erinnern, erwies sich später anhand von nüchternen Fakten als falsch. Denn nicht nur unser Verhalten, auch unsere Erinnerungen sind häufig von eigenem Wunschdenken geprägt: „So möchte ich mich daran erinnern…“
Max Frisch hat diesen Gedanken auf die Spitze getrieben, als er schrieb: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält“.
Besondere Leserin
Eine ganz besondere Leserin hat mein Buch übrigens schon: Elfriede Piwko. Die Dame, die das alte Fotoalbum aus der Fraba so lange aufbewahrt hat bis endlich jemand auftauchte, der sich dafür interessiert.
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DANKESCHÖN
An der Entstehung meines Buches waren viele beteiligt. Ihnen allen bin ich dankbar. Mein besonderer Dank geht an meine Cousine Gitti Duong (geborene Bartl), an meinen Freund Matthias Radek und seinen Vater Bob, an meine neuen Perninker Freund*innen Bedrich Lühne, Elfriede Piwko, Jana und Roland Grahsberger und an den Grafiker Achim Weinberg.